Faltenwurf – ein Kurzkrimi

Nackt liegt die Frau vor Tina auf dem Tisch, bis zur Brust abgedeckt durch ein grünes OP-Tuch. Einmal Lidstraffung und Wangen aufpolstern, reiner Routinekram. Wäre der Kollege nicht von plötzlicher Übelkeit befallen worden, hätte man es Zufall nennen können, dass die Schnepfe gerade bei ihr unter dem Messer landet.

„Kannst du für mich einspringen, ich muss kotzen“, hat er ihr zugerufen.

Die Geliebte ihres Mannes also, fünfzehn Jahre jünger und doch nicht jung genug. Tina taucht das Skalpell ein, zirkelt gefühlvoll am Jochbogen entlang zum Ohr und dann abwärts. Sie ignoriert die Markierungen, die der Kollege noch aufmalen konnte, bevor die Wirkung des Brechmittels einsetzte. Sorgsam schält sie die Epidermis ab, klappt sie nach oben. Töten könnte sie die Schlampe, doch Tina verfolgt einen erzieherischen Ansatz. Sie sticht die Nadel ein, näht, klappt den Hautlappen zurück und mustert das Ergebnis. Entscheidend ist, dass keine Wülste entstehen, sondern Falten. In dieser Disziplin gibt es keine Erfahrungswerte. Zufrieden mit der Arbeitsprobe stickt Tina eine lebhafte Faltenlandschaft unter die Haut ihrer Rivalin, bevor sie die neue Hülle wieder am Fleisch befestigt. Eine Woche hat ihr Werk nun Zeit unter dem Verband zu heilen. Dann wird sich weisen, ob die Schönheit tatsächlich im Auge des Betrachters liegt, wie ihr Mann so gerne behauptet.

Der Text ist erstmals im Krimi-Kalender 2010 des Ars vivendi-Verlages erschienen.

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5 Antworten zu Faltenwurf – ein Kurzkrimi

  1. Rainer Neumüller schreibt:

    und wie ists geworden, der faltenwurf? foto!

  2. Elis Fischer schreibt:

    Ach, ist das schön!

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