Es ist ja für das Schreiben nicht von Nachteil, wenn man gelegentlich etwas erlebt. Ein kundenorientierter Brotberuf bietet dafür das optimale Umfeld, ist aber längst nicht so vergnüglich, wie abendliche Barbesuche mit guten Freunden. Der schriftstellerisch verwertbare Erlebnischarakter solcher Lokalbesuche hält sich allerdings in Grenzen. Man kommuniziert, man lacht, man hat wenig Zeit seiner Umgebung mehr als oberflächliche Aufmerksamkeit zu schenken. Es sei denn man hätte das zweifelhafte Glück, seinen Abend mit unverbesserlichen Langweilern zu verbringen. Genug Gelegenheit am Nachbartisch zu horchen und auf der Toilette Kontakte zu knüpfen, dennoch kein idealer Verlauf des Abends.
Höchst erlebnisorientiert und darüberhinaus Zeit sparend ist die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Textbelebende Details in Form diverser Modetorheiten oder körperlicher Deformationen lassen sich hier ebenso sammeln, wie Kurzdramen am Telefon und Erkenntnisse über die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in unterschiedlichen Stadtvierteln.
Manchmal muss man sich allerdings auch ärgern, aufregen sogar. Beispielsweise über den Anzugträger, der einer hochschwangeren Farbigen nicht den für sie vorgesehenen Sitzplatz überlässt, weil sie froh sein solle, dass sie nicht zu Fuß gehen muss. Ein Beifall heischender Blick in Runde, alles blickt zu Boden oder aus dem Fenster. Aufregen!
Oder die frischblondierte Sechzigerin im lachsfarbenen Kostüm, die den Enkel von der Privatschule abholt. Nicht mit dem Auto heute, da das in der Werkstatt steht, wie sie der neben ihr stehenden Frau erklärt. Könnte ja jemand denken sie sei auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen.
Straßenbahnlinie 44 also, Ottakringerstraße. Eine lebhafte Vorstadtgegend, ein ehemaliges Arbeiterviertel mit hohem Migranten- und steigendem Boboanteil.
Eine unglaubliche Frechheit sei das, sagt die Kostümträgerin, dass man hier schon wieder die Straße für eine Großbaustelle gesperrt hätte. Der Umweg koste sie mit dem Auto glatt fünf Minuten. Jeden Tag. Und das alles für das Gsindl, das da lebt. Das nämlich jeden Blumentopf stiehlt, der nicht festgekettet ist, sagt sie.
Ich will mich schon einmischen, erklären, dass es um eine neue Fernwärmeleitung geht und barrierefreie Gestaltung, Grünanlagen.
Überflüssig, denn: „Jeder Groschen ist verschwendet in der Gegend! Jeden Tag wird da einer niedergeschossen.“
Als wären wir in Chicago und nicht in Wien, wo man mitten in der Nacht fast überall, und auch in diesem Bezirk, als Frau bedenkenlos alleine nach Hause gehen kann.
Die Angesprochene, gekleidet in Leggins, Gesundheitsschuhe und Polyesterbluse, lächelt verlegen, nickt, lässt peinlich berührt den Blick schweifen und steigt bei der nächsten Station aus.
So wie ich. Wir wohnen wohl im falschen Viertel, Mon Dieu!
„Sie sind ja eine verbitterte Tante“, hätte ich beim Aussteigen nicht zur Spätblonden sagen müssen, vor dem Enkelkind und alles. Aber mir ist so schnell nichts anderes eingefallen. Wem jetzt übrigens ein Bonmot über das goldene Wienerherz auf der Zunge liegt, der möge es sich für eine andere Gelegenheit aufbewahren. Die blonde Oma sprach mit bundesdeutschem Zungenschlag. Sehr integrationsfähig, die Deutschen 😉
Und hier gibt’s den Soundtrack von der guten Jazz Gitti: http://www.youtube.com/watch?v=kMT1GkEak7g
Das kann nicht sein. Die blonde Oma hat ihren Wiener Dialekt trickreich verborgen, um dich in die Irre zu führen. Ganz sicher war es so… also wirklich… diese Wiener…
Du hältst also nichts von der Integrationsthese?
Nein. In diesem Fall ein ganz klares „Nein“. Du weißt genau, wie verschlagen Rentner sein können, wenn es darauf ankommt.
Was für eine herzerfrischend positive Einstellung! Aber ich meinte doch die Integrationsfähigkeit der Deutschen in Österreich.