Das Schmoren der Lämmer oder Katharsis zum Quadrat

Vor Jahren erzählte ein renommierter Autor beim gemütlichen Zusammensein im Gastgarten, dass seine Krimiplots vom Scheidungsanwalt seiner Exfrau als Beweis für seelische Grausamkeit ins Feld geführt wurden. Wer gewohnheitsmäßig über Mord und Totschlag schreibt, so reimte es sich der offenbar wenig phantasiebegabte Mensch zusammen, muss seine perversen Gedanken auch im familiären Alltag zwanghaft umsetzen.

Mal abgesehen davon, dass gerade diesem Autor der Krimi als Vehikel dient, um sich sozialkritisch mit den Mechanismen der Gesellschaft auseinanderzusetzen, liegt dem Vorwurf noch ein weiteres Missverständnis zugrunde. Ein logischer Fehlschluss, mit dem wohl alle Krimiautorinnen  und -autoren schon konfrontiert worden sind.

„Vor dir muss man ja echt Angst haben!“, höre ich auch ich selbst von befreundeten Lesern meiner Kurzkrimis. Da für mich im Gegensatz zum oben erwähnten Kollegen keine unmittelbaren Nachteile aus dieser Unterstellung zu erwachsen drohen, widerspreche ich nicht. Stattdessen genieße ich die furchtsamen Blicke und kontere mit rätselhaft boshaftem Lächeln. Rätselhaft boshaft – das will natürlich vor dem Spiegel geprobt werden, doch das ist die Mühe wert. Nie zuvor hat jemand sich vor mir gefürchtet und wer will schon ewig klein und niedlich sein. Etwas zähneklappernde Ehrfurcht tut zur Abwechslung ganz gut.

Ganz unter uns muss ich allerdings zugeben, dass ich noch nie so ungefährlich war, wie in den letzten Jahren. Seit ich alle auftretenden Aggressionen unmittelbar in böse Geschichten umsetzen und jede niedere Regung an das literarische Personal delegieren kann, bin ich an Sanftheit höchstens noch von einem Osterlämmchen zu toppen. (Nein, nicht frisch aus dem Ofen! Das war jetzt Ihre perverse Phantasie!) Wenn schon der Leser von der kathartischen Kraft der Literatur profitiert, so gilt das für die Autorin natürlich zum Quadrat.

Dabei muss es nicht immer Mord und Unzucht sein. Auch wenn ich etwa eine mollig gewordene Bekannte treffe fühle ich mich nun nicht mehr durch geheime Kräfte gezwungen, ihr mit süßlichem Lächeln zu gratulieren und zu fragen, im wievielten Monat sie denn sei. Nach dem Besuch der Toilette in fremden Häusern weise ich die Gastgeber nicht freundlich auf die Defizite ihrer Putzfrau hin, wohl wissend, dass die sich eine solche gar nicht leisten können, sondern speichere den unappetitlichen Anblick höchstens zur späteren schriftstellerischen Verwendung ab. Nur über unliebsamen Freunden der Töchter oder allzu dumpfschimmligen Beamten dräut natürlich weiterhin das Schwert literarischer Gewalt.

Mit anderen Worten: Meine sittliche Reifung hat sich durch das Schreiben auf ungeahnte Weise beschleunigt. Sicher – manche meinen ich sei ein wenig langweilig geworden. Denen schenke ich ein sanftmütiges Lächeln voller Tiefgründigkeit (üben!) und schlage ihnen gedanklich ein Buch um die Ohren, denn es geht tatsächlich nichts über die kathartische Kraft der Literatur.

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2 Antworten zu Das Schmoren der Lämmer oder Katharsis zum Quadrat

  1. Elis Fischer schreibt:

    Vollste Zustimmung – es gibt nichts Besseres für die Psychohygiene, als am Papier zu morden oder Rache zu üben.
    LG
    Elis

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