Schon gestern war ich hier, vergeblich. Als kämen sie auch im Sonnenschein. Heute hingegen ideales Wetter. Nur wenige Schritte entfernt verstecken sich die streng gestutzten Bäume im Nebel, bereits der Kies zu meinen Füßen wie mit nassem Pinsel verwischt. Der frische Grauschleier mildert die Kanten der barocken Rabatten, lässt die der Natur aufgezwungene Präzision weniger erbarmungslos erscheinen.
Ich suche meine Tante. Letzte Woche habe ich sie hier gesehen. Zielstrebig, wie sie Zeit ihres Lebens war, eilte sie die rechtwinkelig angeordneten Wege zwischen den Beeten entlang, nahm Diagonalen, schnitt die Ecken, ohne sich um den Nieselregen zu scheren. Ich folgte ihr, rang nach den rechten Worten sie anzusprechen, fürchtete den Moment, in dem sie sich umdrehen würde.
Dann war sie im Nebel verschwunden. Schwer atmend ließ ich mich auf eine Bank fallen. Wie Schatten zogen Spaziergänger an mir vorüber, in Gruppen zumeist. Touristen, die das Schloss und den Park besuchen mussten, sei das Wetter, wie es wolle, Schönbrunn ein Fixpunkt für jeden Besucher der Stadt. Viele von ihnen trugen Kameras und ich stellte mir vor, wie sie, zurück in ihren Heimatländern, die Nebelschwaden auf den Fotos betrachten und überlegen würden, in welchem Land sie sich befunden hatten.
Erst wenige Meter von meinem Beobachtungsposten entfernt gewannen die Vorüberziehenden an Kontur, materialisierten sich, um bald darauf wieder Teil der Nebelwand zu werden. Viele Asiaten waren darunter, die sich in Sprachen unterhielten, die ich nicht benennen, noch weniger verstehen konnte. Französische und spanische Wortfetzen dazwischen, Englisch, die Laute ebenso gedämpft in der feuchten Luft wie alle Farben.
Öfter als erwartet jedoch passierten mich einsame Wanderer, die weder Rucksäcke noch Fotoausrüstung mit sich trugen. Ein Greis, der sich mithilfe eines knorrigen Gehstocks über den Kies schleppte. Eine grauhaarige Frau in altertümlicher Kleidung, die im Vorüberhasten ihren Hut an der Krempe festhielt. Ein junges Mädchen war da, in Minirock und erdverkrusteten Stiefeln, das Gesicht geradezu leuchtend blass. Im Laufschritt trabte sie den Hang hinauf. Ihre Eile hob sie vom Bummelschritt der touristischen Besucher ab. So eilig hatte es auch meine Tante gehabt.
Sie haben Ausgang, dachte ich. Neblige Novembertage, in denen die Toten nicht von den Lebenden zu unterscheiden sind, alle gleich blass und unwirklich, sind ideal. Da kommen sie, die Weite des Barockgartens zu genießen, eilen den Hang hinauf zur Gloriette, der Blick auf die verwaschene Stadt Balsam für die Augen.
Drei Jahre sind vergangen seit meine Tante starb. Ebenso lange bedaure ich, ihr nie gesagt zu haben, wie wichtig dieser eine Satz von ihr war, ein Satz, der mir im entscheidenden Moment den Weg gewiesen hat. Und nun vielleicht Gelegenheit, dies aufzuholen. Wie oft sie wohl hierher kommt, frage ich mich, während ich meinen Posten oberhalb des Neptunbrunnens beziehe. Hier muss jeder vorbei, der den Hügel hinauf will zur Gloriette. Ich scanne die Kieswege, die das große Parkett teilen, bemühe mich, unter den unscharfen Gestalten diejenigen auszumachen, die dazugehören.
Die tonnenförmige Frau, die sich am Arm eines nicht minder beleibten Herrn auf mich zu wälzt. Das könnte meine Oma sein, die mich geschlagen hat, weil ich während des Essens aufs Klo musste. Ein Glücksfall sie zu treffen. Auch ihr hätte ich einiges zu sagen, was mir damals im Hals stecken geblieben ist. Doch ich bin nicht sicher und sie sind heute in so großer Zahl unterwegs, dass ich nicht wage sie anzuklagen. Denkbar, dass es Solidarität gibt unter den Toten, womöglich mehr als unter den Lebenden.
Der Nebel wird dichter. Die Steinfiguren, die den Platz säumen, winterlich eingehüllt in Plastikplanen, sind nur noch durch ihre Größe von den wenigen Passanten zu unterscheiden. Die dicke Frau und ihren Begleiter kann ich nicht mehr entdecken. Bis oben hätten sie es ohnehin nicht geschafft.
Die Tante kommt nicht. Vielleicht gab es nur eine Gelegenheit. Immer nur eine Gelegenheit.