„… neunundvierzig, fünfzig“, zählt Alex mit säuerlichem Gesichtsausdruck die Kerzen auf dem Kuchen, den Birgit zu seiner Geburtstagsparty mitgebracht hat. „Soll ich jetzt zehn Jahre warten, bis ich den anschneide, oder wie?“
„Äh, ich dachte …“ Birgit wirft beredte Blicke auf die kahle Stelle an seinem Hinterkopf, auf die tiefen Falten, die Stress und Genussmittelmissbrauch um seinen Mund gegraben haben und sieht sich hilfesuchend um. Die leuchtend rote Zahl 40, die in der Mitte der Tischdeko prangt, lässt sie verstummen.
Klar, kann passieren, schließlich heißt es ja „ehrlich währt am längsten“ und es besteht immerhin die Möglichkeit, dass Alex den subtilen Hinweis auf die Kluft zwischen biologischem Alter und Erscheinungsbild zum Anlass nimmt, seinen Lebensstil grundlegend zu verändern. Das könnte also der Beginn einer lebenslangen, auf Ehrlichkeit und Dankbarkeit gegründeten Freundschaft sein. Oder Alex vergisst ganz zufällig bei der nächsten Einladung Birgits Namen in den E-Mail-Verteiler aufzunehmen.
„Gratuliere!“ „Wozu?“ „Ach, bist du nicht schwanger?“ „Nein, nur fett.“
Ein echter Klassiker charmefreier Fettnäpfchenstampfer, millionenfach gedacht, zehntausendfach hinter vorgehaltener Hand der Freundin zugemurmelt, doch nur wer ansatzlos zum Glückwunsch schreitet, darf sich wahrer Undiplomatie rühmen.
Ebenso wie die sieben Jahre jüngere Freundin, die meine Argumente in einer Diskussion mit dem fröhlichen Hinweis :“In deiner Generation war das halt noch anders“ beiseite wischte. Ich freue mich schon darauf, wenn sie mich demnächst nach meinen Kriegserinnerungen fragt.
Aber solch kleine Unverschämtheiten kann man, je nach Disposition, elegant übergehen oder darüber lachen. Wer richtig unangenehm werden will, muss von oben herab arbeiten. Wie die nicht berufstätige Zahnarztgattin, die zugleich mit mir Mutter wurde. Warum ich (alleinerziehende, jobbende Studentin) nicht mit dem Studium weiterkäme, verstünde sie nicht, ich könne mir doch halbtags ein Kindermädchen nehmen. Die Meldung hätte mich deutlich weniger grantig gemacht, wenn sie mir gleich das Geld dafür zugesteckt hätte.
Ich gebe es zu: Auch mir entwischt, wie allen spontanen Menschen, gelegentlich eine Taktlosigkeit. In den meisten Fällen gehen meine Opfer großzügig darüber hinweg, wenn sie sehen, wie ich mich beschämt unter dem Tisch verkrieche. In dieser Hinsicht sollte ich noch an mir arbeiten. Vielleicht in Form eines Neujahrsvorsatzes: Mehr Alkohol, weil Alkohol enthemmt und man dann manches lustig findet, über das man nüchtern beschämt den Kopf senken würde. Witze auf Kosten anderer zum Beispiel.
Wahre Meisterschaft in der Disziplin der Taktlosigkeit wird mir aufgrund einer suboptimalen Persönlichkeitsstruktur vermutlich verwehrt bleiben. Nicht nur, weil mir spätestens nach dem Promilleabbau immer alles schrecklich peinlich ist, sondern auch weil Respekt vor den Gefühlen und Bedürfnissen der Mitmenschen auf dem Weg zur vollendeten Misanthropie nur hinderlich ist. Auch in Arroganz bin ich total schlecht. Es bleibt mir also wohl kaum anderes als weiter zu dilettieren und auf die fallweise Toleranz meiner Mitmenschen zu hoffen. Oder mir im schlimmsten Fall eine Entschuldigung abzuringen.
Also, es tut mir voll leid, lieber S., dass ich behauptet habe, die zwanzigjährigen Mädels würden nur lachen, wenn du sie einlädst. Das war grob und unsensibel von mir. (Aber wenn’s doch wahr ist …)
finde ich total nett!
Schön, dass sich mal jemand dem großen Thema „Taktlosigkeit“ widmet und das auch noch so gelungen 🙂 Man könnte Bücher mit taktlosen Momenten füllen. Aber oft frage ich mich: “ Kann man Taktlosigkeit abstellen? Oder sind manche Menschen einfach taktlos und können gar nichts dagegen tun?“ So oder so: Toller Blog!
Oder jeder ist manchmal taktlos und merkt es oft nicht einmal 😉
Freut mich jedenfalls, dass dir der Beitrag gefällt!