Beim Frühstück las ich einen Artikel in der New York Times International Weekly über die Paleo-Diät. Gehört hatte ich schon davon, schließlich wird diese Laune des Zeitgeschmacks von Freundinnen beschwärmt und auf den Titelseiten der Hochglanzmagazine gepriesen, die sich dem bewussten Leben modisch gestylter, schlankgetrimmter Körper widmen. (Wenn das mal kein Paradoxon ist …) Erfrischend ironisch informiert mich die NYT, dass ich mein Joghurt mit frischen Früchten ohne Joghurt und mein Frischkäse-Schinkenbrot ohne Brot und Frischkäseaufstrich genießen sollte. Milch- und Getreideprodukte gab es nämlich nicht in der Altsteinzeit, auf die sich die Paleo-Diät bezieht, unser Körper sei demzufolge nicht auf deren Verdauung ausgerichtet. Dass Zucker und alle vorverarbeiteten Lebensmittel ebenfalls von der Speisekarte verbannt werden sollten, versteht sich von selbst. Freilandgezogenes Fleisch, Eier, frisches Gemüse, Obst und Nüsse bilden die Basis der Paleo-Diät.
Gesund? Mag sein. Viele begeisterte Foodblogger künden davon und eine Reduktion der Zucker- und Tiefkühlpizzazufuhr gereicht sicher jedem zum Vorteil.
Bigott und inkonsistent? Ganz sicher! Denn die neuzeitliche Höhlenbewohnerin betrachtet einen Strawberry Daiquiri als altsteinzeitkonform, sofern organisch gezogene Erdbeeren, frisch gepresster Orangensaft und Honig zum Einsatz kommen. Wer noch nie Eis, Orangen, Erdbeeren und Zuckerrohr (Rum!) nebeneinander am Wegesrand gefunden hat, der werfe den ersten Stein. Die Verwendung ausschließlich regionaler Produkte erschiene mir hier schon relevant. Allerdings ist mir als Autorin eines historischen Romans natürlich bewusst, dass es darum geht, den Geist einer Epoche einzufangen, da es niemals möglich ist, sie eins zu eins ins Heute zu transferieren. Kein Anlass also, sich über kleine logische Schnitzer aufzuregen.
Was mich allerdings sehr stört, ist die Grundannahme, im Paläolithikum wäre quasi ein Grundmodell des Menschen erschaffen worden, dass seither nicht modifiziert dauernd neuen Einflüssen ausgesetzt wurde, denen es nicht gewachsen ist. Der Mensch ist ein höchst anpassungsfähiges Lebewesen und die Epigenetik hat inzwischen erwiesen, dass diese Anpassung weit rascher vonstatten geht als aufgrund Darwinscher Theorien früher angenommen. Die Laktose-Intoleranz beispielsweise, ursprünglich allen Menschen zu eigen, ist erst nach Auftreten der Viehzucht an mehreren Stellen zugleich, wenn auch niemals endgültig, verschwunden. Der Mensch gestaltet seine Umwelt aktiv nach seinen Bedürfnissen und zwar in einem Tempo, dass erst nach der Altsteinzeit so richtig Fahrt aufgenommen hat.
Das Paläolithikum war die bei weitem längste Periode der Menschheitsgeschichte. Fast zwei Millionen Jahre schlug sich die Menschheit als Jäger und Sammler durch. Seit wir gelernt haben sesshaft Viehzucht und Ackerbau zu betreiben, sind hingegen nur einige tausend Jahre vergangen. Erst der Genuss nahrhafter Getreideprodukte ermöglichte es, uns nicht ausschließlich auf das tägliche Überleben konzentrieren zu müssen, Kultur und Technik zu entwickeln und, nicht zuletzt, uns erfolgreicher zu reproduzieren und länger zu leben. Und um der Paläo-Diät eine weitere Grundlage zu entziehen: Wildes Getreide sammelte man bereits in der Altsteinzeit. Funde deuten daraufhin, dass es zunächst zur Herstellung alkoholischer Getränke genutzt wurde. Möglicherweise findet sich im Wunsch nach dem regelmäßigen Rausch also die wahre Motivation zur Menschheitsentwicklung, Womit wir wieder beim Daiquiri wären …
Was mich wirklich aufbringt ist die Rücksichtslosigkeit des Paleo-Diät-Ansatzes. Das Schwergewicht der Ernährung vom Getreide auf Fleisch zu verlagern ist weder ökologisch noch unter dem Gesichtspunkt der Welternährung auch nur ansatzweise vertretbar. Die Menschheit ist nicht durch eine fleischbasierte Diät zu ernähren. Punkt. Der Neo-Cave Man, wie oben dargelegt wissenschaftstheoretisch ohnehin spätestens bei Darwin steckengeblieben, mag sich nun sagen: „Na und? Survival of the fittest, was kümmern mich die Reisesser, solange ich mein biologisch gezogenes Steak auf dem selbstgetöpferten Teller habe?”, und offenbarte damit vielleicht zum ersten Mal eine wahrhaft steinzeitliche Gesinnung.
Obwohl – Spieltheorie und Menschheitsgeschichte legen nahe: Kooperation war und ist langfristig erfolgreicher als rücksichtslose Durchsetzung eigener Interessen. Es gewinnen alle oder keiner. Dieses Wort in der Paleo-Diätisten Ohr. Und in das der IS. Aber das ist eine andere Geschichte.
Schöner Satz: „Es gewinnen alle oder keiner.“ Und eine bessere Grundlage für ein gutes Leben als pseudowissenschaftliche Diäten 😉