Taktvoll und tabellophob

Es gibt Abneigungen, denen man nicht unter allen Umständen nachgeben kann. Während ein Kind der sabbernden Großtante, die partout geküsst werden oder gar selbst küssen will, heutzutage meist ungestraft ein markiges Wäh! entgegenschleudern darf, wird von Erwachsenen eine gewisse Leidensbereitschaft erwartet. Durchaus nicht zu unrecht, wie ich finde, da es gilt, sinnlose Verletzungen fremder Seelen zu verhindern. So ein gesellschaftskonformes Verhalten nennt sich dann je nach Ausprägung und Anlass Taktgefühl, Höflichkeit, Diplomatie oder Feigheit.

Auf diesem Gebiet nur mäßig begabt, wachse ich doch gelegentlich über mich hinaus. Einmal jährlich beispielsweise, wenn der Besuch beim Steuerberater ansteht, der mir für geringes Entgelt die stundenlange Beschäftigung mit Tabellen und Formularen erspart.

Tabellenförmiges, muss man dazu wissen, erzeugt in mir einen Widerwillen, der sich auf Kariertes aller Art, vom Holzfällerhemd bis zur kleinkarierten Aufteilung literarischer Genres erstreckt. Während ich mich in meinem Herkunftsberuf als Architektin den Tabellen nicht verweigern konnte, da nahezu alle erforderlichen Kenngrößen Excel-basiert ermittelt werden, nimmt es mir als Schriftstellerin niemand übel, wenn ich mit Zahlen nicht kann oder mag. Ganz im Gegenteil, es wird geradezu von mir erwartet, da ich ja offensichtlich sprachlich begabt bin und also nicht mathematisch-naturwissenschaftlich.

Und schon wieder in einer Schublade gelandet! Schubladen sind die tückischen, allgegenwärtigen, unentrinnbaren, Brüder der Tabelle und sie sind knöchelhoch mit nicht abwaschbarer Farbe gefüllt. Jeder Schritt lässt dich in eine tappen, jeder weitere markiert deine Zugehörigkeit, zeigt, woher du kommst und dass du demzufolge dort, wo du dich gerade aufhältst, nichts verloren hast.

In meinen Augen gibt es zwei funktionierende Methoden damit umzugehen. Entweder bleibt man, wo man hingesteckt wurde, was einfach sein mag, wenn man der Typ ist, dem beim Anblick von Tabellen das Herz aufgeht. Oder man hüpft von einer Lade zur nächsten, tritt auf die Grenzen, stampft vielleicht sogar Löcher hinein. Anfangs ist das unbehaglich, weil man ja überall fremd anmutende Spuren hinterlässt. Doch mit der Zeit, so meine noch endgültig zu beweisende Phantasie, vermischen sich die Farben zu einem klaren Weiß, dass keine Rückschlüsse mehr darauf zulässt, wo du hingehörst. Du bist zu Hause, wo auch immer du sein möchtest. (Ok, weiß funktioniert nur, wenn man ein reines Lichtwesen ist, sonst wird es ein unattraktives Graubraun, das jedoch dieselbe Funktion erfüllt.)

Ich bin ja eher der Hüpftyp, der Schulen, Männer und Berufe gewechselt hat, bis die Füße weiß wurden ( naja …). Grenzen hinterfragen, reale und die in den Köpfen, das geht mir meist locker von der Zunge, und Zäune sind da, um darüber zu klettern. Trotzdem verstehe ich das Ordnungsbedürfnis der zufriedenen Schubladenbewohner. Es muss schön sein, zu wissen, wo alles hingehört, wo man selbst hingehört, ganz ohne Zweifel. Sich aufgehoben und geborgen fühlen, anstatt immer ein bisschen fremd und ausgesetzt …

Er hätte also das Potential zu meinem Wohlbefinden beizutragen, mein immer leutselig lächelnder Steuerberater in seinen blauweißkarierten Hemden, ein Tabellenritter, der mir mit Vergnügen die Formularkästchen vom Leib hält. Leider jedoch laufen meine Besuche nach einem unabänderlichen Muster ab, das mich irgendwann alle Regeln der Höflichkeit vergessen lassen wird.

Kurze Begrüßung, dann fragt er, was es Neues gäbe. Mein historischer Roman sei vor wenigen Tagen erschienen, berichte ich freudestrahlend, und schon kommt er zur Sache. Schreiben, ja, da wäre seine Tochter auch ganz groß. Erst sechseinhalb und schon könne sie ganze Wörter lesen und auch schreiben. Noch nicht alle Buchstaben aber doch eindeutig begabt in diese Richtung. Während er mir Formulare zum Unterzeichnen vorlegt, müllt er mich gnadenlos mit Kleinkindergeschichten zu, ohne je beispielsweise nach meinen Kindern zu fragen und dadurch wenigstens den Anschein gegenseitigen Interesses zu erzeugen. Werfe ich eine themenbezogene Bemerkung ein, wird er ungeduldig, als wartete er das ganze Jahr nur darauf, mich mit den neuesten Entwicklungen seiner Nachkommenschaft zu beglücken.

Nachfragen bei anderen (männlichen!) Klienten ergaben, dass er dieses Verhalten anscheinend ausschließlich mir gegenüber an den Tag legt. Echt jetzt? Kein Entkommen aus der Schublade Frau und Mutter? Schon am Spielplatz habe ich mit anderen Elternteilen lieber über Politik, Wissenschaft und Kunst als über Sauberkeitserziehung geplaudert. Jetzt sind meine Kinder (die einzigen, deren Befinden mich immer interessiert!) zwanzig und ich soll mich immer noch für fremde Windeln und Buchstabentage interessieren?

Nächstes Jahr … Aber lohnt es sich wirklich, die Höflichkeit über Bord zu werfen und meinen Steuerberater aus seiner heimeligen Schubladenwelt zu stoßen, wegen einer Viertelstunde Leid im Jahr? Und wenn ja, wie sag ich es ihm?

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5 Antworten zu Taktvoll und tabellophob

  1. 500woerterdiewoche schreibt:

    „Wie sag ich es ihm?“ – Wie wär’s mit: „Also, ehrlich gesagt, Kinder mag ich nur gut durchgebraten und mit einer feinen Rotweinsoße“? 😛

    Weitere Möglichkeiten: starrer, ausdruckloser Blick auf den Punkt zwei Zentimeter neben seiner linken Schläfe, bis er mit dem Thema aufhört; gnadenloses Zurückmüllen über die eigenen Kinder (man muss ja nicht erwähnen, dass sie schon erwachsen sind); exakt alle zehn Sekunden „mhm“ sagen, egal ob’s passt oder nicht; wann immer er den Mund öffnet, die Augen verdrehen und mit einer Hand die Blabla-Geste machen, bis er ihn wieder schließt…

    Oder ein schlichtes „Ihr Kind ist sicher ganz entzückend, aber da ich ihm nie begegnet bin, fällt es mir sehr schwer, mich dafür zu interessieren. Können wir jetzt bitte zum Thema meines Besuchs übergehen?“ Die anderen Sachen wären aber wahrscheinlich lustiger 😉

  2. Xeniana schreibt:

    Oder selbst Geschichten von früher erzählen, der erste Zahn, Töpfchentraining, ……

    • gudrunlerchbaum schreibt:

      Das habe ich schon versucht, aber er wird dann ganz ungeduldig und ist so offensichtlich desinteressiert (logisch, weil seine Kindergeschichten tausendmal interessanter sind 😉 ), dass ich schnell wieder aufgegeben habe.

  3. Deliah Rill schreibt:

    Die Schubladenwelt…alles klar definiert, gesellschaftsalphabetisch geordnet und mit der passenden nicht-abwaschbaren Farbe…ähm…Rolle…nein!…sinnvollen Aufgabe für jeden Menschen befüllt. Was hört einer, der zufrieden in der Schublade lebt, wenn wir ihm zu erzählen versuchen, wieviele Schattierungen von Graubraun die Welt annehmen kann?

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