Einer meiner Facebook-Freunde teilte heute einen Video-Beitrag von BUNTE.de. Eine junge Frau schaut mit traurigem Blick an mir vorbei und beklagt zur Klavieruntermalung: „Heute ist mein Herz zerbrochen.“ Ursache dieser metaphorischen Verletzung ist nicht eine romantische Verstrickung, sondern ein Unrecht, das man ihrem Sohn angetan hat. Der niedliche Kleine, der mir gleich darauf entgegenlächelt, wurde von unbekannten Jugendlichen mit den Worten: „Hätte ich ein rothaariges Kind, würde ich es töten“, verbal misshandelt.
Das ist richtig mies, keine Frage. Und man kann darauf natürlich reagieren, indem man die Öffentlichkeit sucht, mit dem von der Mutter formulierten Ziel: „Ich will ihm zeigen, dass es auf dieser gottverdammten Welt auch gute Menschen gibt. Nette Menschen, die ihn nicht schikanieren und ausgrenzen. … Zeigt meinem Sohn, dass er nicht alleine ist.“
Der allerdings ist vermutlich noch nicht auf Facebook, er ist erst drei. Und alleine womit? Mit seinen roten Haaren? Das klingt für mich, als hielte die blonde Mutter rote Haare selbst für eine Art Körperbehinderung. Ob sie ihrem Kind einen Dienst erweist, indem sie es öffentlich und mit Bild zum Opfer erklärt, anstatt ihm eindeutig zu vermitteln, dass er völlig okay ist und die Schuld bei den Aggressoren liegt? Die mit ziemlicher Sicherheit bald darauf einen anderen Schwächeren zu dick, zu dünn oder zu sommersprossig finden. Kann sein, weil sie wirkliche Arschlöcher sind, die sich auch auf Dauer nur gut fühlen, wenn sie andere kleinmachen. Die in ein paar Jahren ihren Freundinnen sagen, dass sie zu fett sind oder noch später ihren Frauen zum Geburtstag einen Silikonbusen schenken.
Kann aber auch sein, dass es sich nur um besonders grobe, aber alterskonform verstörte 12-Jährige handelt. Hat die blondgelockte Mutter sich in ihrer Jugend nie abfällig über andere geäußert? Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Und wie groß ist wohl die Chance, dass der kleine Rotschopf in ein paar Jahren selbst Schulkameraden als Brillenschlange oder fette Kuh beschimpft? Verdammt groß, fürchte ich. In einem gewissen Alter üben Kinder und Jugendliche Gruppenidentität und Abgrenzung auf oft penetrante und verletzende Weise. Der einzige Trost besteht dann darin, dass es fast jeden irgendwann erwischt. Zu dick, zu dünn, falsche Haar- oder Hautfarbe, schlecht im Sport, zu dumm, zu klug, falsche Klamotten, komischer Akzent …
Als meine Töchter zwischen zehn und dreizehn waren, fielen sie, wenn Nachmittagsunterricht angesagt war, über die Mittagszeit des Öfteren mit einer Horde von Freundinnen bei uns ein, weil wir nah der Schule wohnten und ich mir als Freiberuflerin die Zeit nehmen konnte, für alle zu kochen. Da wurde natürlich auch über andere hergezogen und Einwände meinerseits beiseite gewischt, weil XY ja wirklich so dermaßen komisch redet oder man bei ZX vor lauter Fett die Wirbelsäule nicht sieht. Andererseits war das Unglück unermesslich, wenn ein Mitglied der Horde selbst auf ähnliche Weise beleidigt worden war.
Als wieder einmal ein anderes Kind aufgrund irgendeines Merkmals als „totaler Außenseiter“ bezeichnet wurde, riss mir der Geduldsfaden. „Und du bist die einzige am Tisch mit blonden Haaren und braunen Augen“, sagte ich. „Ätschbätsch, Außenseiterin!“ Kurze Verwunderung, dann kollektives Gelächter. Das Außenseiterspiel war geboren. Fortan wurde mit sportlichem Ehrgeiz nach Merkmalen gesucht, die eines der Mädchen, mich freundlicherweise eingeschlossen, von allen anderen unterschied. War eines gefunden, dann wurde die Betreffende mit lauten „Außenseiter, Außenseiter“-Jubelrufen bedacht. Und wehe, wenn eine mehrere Runden hintereinander nicht die plötzlich ersehnte Außenseiterrolle zugesprochen bekam. „Jetzt wieder ich!“, hieß es dann.
Nach den unvermeidlichen Wehen der Pubertät sind meine Töchter sehr selbstbewusste junge Frauen geworden. Blass wie ein Junkie? Eine solche Bemerkung macht ein durch das Außenseiterspiel gestähltes Mädchen stolz auf ihre zarte Elfenhaut. Und auch ich – durch Umzüge in der Kindheit und so manchen Charakterzug als Außenseiterin nicht unerfahren – muss noch heute lächeln, wenn ich mich irgendwo nicht passend fühle. „Außenseiter Außenseiter!“, höre ich die Mädels dann gackern.
Und die Moral von der Geschicht? Für alle, die es didaktisch lieben, gibt es die heute im Doppelpack:
Die erste ist von Astrid Lindgrens Pipi Langstrumpf und heißt: Ich mach mir die Welt …
Die Zweite: Uns allen tut eine Erkenntnis gut, die man normalerweise im Lauf des Lebens gewinnt: Die Erkenntnis, dass jeder Außenseiter ist, jeder anders als die anderen in diesem oder jenem Aspekt. Jeder etwas Besonderes – und gerade deshalb wie alle anderen. Und daher allen anderen denselben Respekt schuldig, den sie oder er sich selbst erhofft.
Nicht die Außenseiter gefährden die Gesellschaft, sondern die, die Außenseiter nicht respektieren.
Wunderbarer Text, danke dafür. Den gebe ich gleich mal meinem spätpubertierenden Außenseiter zu lesen. 🙂
Liebe Grüße, Claudia
🙂
Schöner Text. Und der letzte Satz passt längst nicht nur hier…
Danke. Ja, so ist der Satz auch gemeint. Durchaus als Kommentar zu den Diskussionen der jüngsten Zeit.