Scenius, ein Begriff, erfunden vom britischen Musiker Brian Eno, beschreibt das kreative Potential, das in bestimmten Umgebungen, Gruppen oder sozialen Biotopen aufblüht. Wörtlich lautet seine Definition: „Scenius stands for the intelligence and the intuition of a whole cultural scene. It is the communal form of the concept of the genius.“
Dabei kommen mir die Künstlergesellschaften in den Sinn, die sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Paris, Wien oder Berlin zusammenfanden. Und auch wenn der Charakter von Montmartre inzwischen von Touristenhorden niedergetrampelt scheint, ertappe ich mich dort alle paar Meter dabei, dass ich stehenbleibe und mich mit Hemingway in einem Bistro debattierend träume oder mit Picasso und Braque in einem Dachzimmer … Zwiebelsuppe kochend. Der Geist des Ortes und der vielen Genies, die er genährt hat, wächst zwischen den Pflastersteinen und tropft von den Gesimsen.
Der Ort einer Begegnung kann eine wichtige Rolle spielen, doch eigentlich entscheidend ist, dass sich die richtigen Menschen begegnen und vor allem – wiederbegegnen! Dafür muss man heute nicht mehr unbedingt über die Schwelle treten. Die Sozialen Medien ermöglichen den Austausch auch mit weit entfernten Kolleginnen, denen man früher kaum begegnet, geschweige denn wiederbegegnet wäre.
Autorinnen und Autoren sind die einzige kreative Berufsgruppe, für die es keine Reibungsverluste bei der schriftlichen Kommunikation über eigene Werke gibt. Maler können zwar Fotos ihrer Bilder verschicken, doch die transportieren in den seltensten Fällen die reale Anmutung. Aber ein Text wirkt, wo auch immer er gelesen wird. Oder eben nicht.
Also sucht euch doch euren Scenius in der virtuellen Welt, wenn ihr ihn lokal nicht findet. Einen Scenius, der sicher nicht immer zu Meisterleistungen führt, aber euch zur besten Schriftstellerin macht, die ihr sein könnt. Dazu ist moralische Unterstützung ebenso wichtig, wie eine grundsätzliche Sympathie für das Werk des Gegenübers und im Idealfall zudem ein ähnlicher Schwerpunkt und ähnliche Prioritäten. Die Kollegin Liebesromaschreiberin ist vielleicht nicht die geeignete Testleserin für deinen Politthriller. Sie kann aber sehr wohl die Richtige sein, um sich über die ignorante Covergestaltung des Verlages oder die unfaire Kritik heilsam auszukotzen.
Ich lebe in Wien, einer Stadt, die zu vielen Zeiten Genies in ungewöhnlicher Dichte hervorgebracht hat. Ich liebe es, hier zu wohnen und finde auf manchen Ebenen Unterstützung in meinen Vorhaben. Kolleginnen allerdings, oder Kollegen, mit denen ich mich fruchtbar über meine konkreten Texte austauschen könnte habe ich hier kaum. Die sitzen in Eisenstadt oder Coesfeld, in Darmstadt, Braunschweig oder Nürnberg. Kennengelernt habe ich sie irgendwann alle in der realen Welt. Weil die Chemie natürlich auch zählt. Doch Verständnis, ehrliche Kritik und Unterstützung geben wir einander per Mail oder Social Media.
Da es aber sehr unbefriedigend ist, sich virtuell zuzuprosten und dann sein Bier allein daheim zu trinken, freue ich mich immer auf gegenseitige Besuche oder die Jahresversammlung des einen oder anderen Schriftstellerverbandes. Besonders inspirierend und kollegial sind immer wieder die Mörderischen Schwestern. Manchmal wabert der Scenius nur so, manchmal entstehen einfach bei dem einen oder anderen Glas neue Freundschaften oder bisher virtuelle werden echter. Denn eines darf Netzwerken in meinen Augen nie sein: zielgerichtet und auf den eigenen Vorteil bedacht. Es gilt, offen für die anderen zu sein und Unterstützung anzubieten. Dann findet man die Menschen, die einem guttun wie von selbst.
Gehet hin und vernetzet euch!
Scenius – ein neues Wort für meinen Wortschatz! Aber der Inhalt ist doch bekannt: Menschen um dich (ob real oder virtuell) zu haben, die Gemeinsamkeiten mit dir teilen, die eine/en stützt, zum Nachdenken bringt, auch mal zur Aktion provoziert! Ein support group, ganz einfach. Braucht jede/r dringend.
Danke für deine Gedanken, liebe Gudrun.
Du hast völlig recht, das ist bekannt. Aber manchmal muss man es sich ins Gedächtnis rufen. Und letztens habe ich eine Kollegin klagen hören, dass niemand in ihrer Nähe wohnt, mit dem sie sich austauschen kann. Andererseits habe ich in letzter Zeit sehr viel Unterstützung von einer fernen Freundin/Kollegin erfahren. Deshalb.
Schöner Text, liebe Gudrun!
Ich bin heilfroh, dass ich im Netz gleichgesinnte Texter/Autoren gefunden habe, mit denen ich auf einer Wellenlänge schwimme. Ich habe immer die Nähe zu schreibenden Menschen gesucht, in meiner Jugend in diversen Schreibzirkeln der jeweiligen Stadt, in Studentenclubs, hielt Kontakte zu lokalen Jorunalisten, die sich später meine Musikkneipe als Treffpunkt auserkoren hatten und so weiter. Nur unwesentlich später arbeitete ich bereits online für einige Verlage. Gute Online-Kontakte wirken für mich wie reale Freundschaften – wir wissen wie wir aussehen, kennen private Problemchen und in vielen Fällen sogar die Stimme per Telefon – und können uns aufeinander verlassen, obwohl teilweise tausende Kilometer zwischen uns liegen. Und wenn uns mal wieder die Idioten der großen weiten Welt nerven (es sind immer die anderen), dann befreit gemeinschaftliche Motzerei ungemein. 😉
Liebe Grüße, Claudia
Danke für deinen ergänzenden Erfahrungsbericht. Je früher man anfängt, desto besser. Ich habe selbst ja erst spät mit dem Schreiben begonnen und deshalb eine Weile gebraucht, um dahinterzukommen, dass die Beschäftigung selbst zwar einsam, aber Gleichgesinnte zahlreich sind 🙂