Die Diskussion um das Verbot der Vollverschleierung lässt derzeit kaum jemanden kalt. Rechts streift man sich aus rassistischen Gründen unpassende feministische Mäntel über, nur um auf Schritt und Tritt auf den Ausscheidungen des bisher zur Schau getragenen Machismo auszugleiten. Links wird Toleranz gegenüber der Intoleranz gefordert und damit fleißig der ultrakonservative Islam beschützt. Die Argumente wirken zumeist so verrenkt als wären sie Ergebnis einer ideologischen Twister-Partie.
Darf eine aufgeklärte Gesellschaft die Vollverhüllung des weiblichen Körpers verbieten?
Verbote seien Instrumente einer repressiven Gesellschaft, sagen die einen. Da eine Vollverschleierung zudem – von der Trägerin abgesehen – niemand anderen behindere, dürfe die aufgeklärte Gesellschaft hier nicht eingreifen. Das scheint auf den ersten Blick zwar abstrakt, aber konsequent und edel gedacht. Freiheit bedeutet immer, diese Freiheit auch abweichenden Konzepten und Lebensentwürfen zuzugestehen. Grotesk wird die Verteidigung vermeintlicher Freiheit allerdings, wenn man, wie in diesem Fall, den Unterdrückern ein stärkeres Schutzbedürfnis zugesteht als den Unterdrückten.
Ein weiteres Argument beharrt auf dem Recht jeder Frau, sich ihre Kleidung selbst zu wählen und sieht dieses Recht im sogenannten Burkaverbot verletzt. Ist es nicht grenzenlos zynisch, ein Kleidungsstück, das die Individualität der Trägerin optisch auslöscht, ausgerechnet mit dem Argument individuellen Kleidungsgeschmacks zu verteidigen? Wer hat je eine Frau in Burka auf unseren Straßen gesehen, jenem blauen Sack mit Gesichtsgitter, das afghanische Frauen in ihrer Heimat in der Öffentlichkeit verhüllt? Obwohl im Zuge der Migrationsbewegungen der letzten Jahre sehr viele afghanische Frauen und Mädchen nach Westeuropa geflüchtet sind, habe ich, trotz persönlicher Verbindungen in die Community, noch nicht eine einzige gesehen, die sich ohne den im Heimatland herrschenden Druck für die Burka entschieden hätte.
Was man hingegen sieht, sind Frauen im Niqab, die wie schwarze Vögel durch Wien, Salzburg oder Zell am See flattern, oft schwer beladen mit Einkaufstaschen aus Nobelboutiquen, deren Inhalt sie – angeblich freiwillig – ausschließlich im Familienkreis vorführen. Konsequent lautet ein häufig gehörtes Argument gegen ein Verschleierungsverbot, ob man wirklich die finanzkräftigen Touristen aus den Golfstaaten vergrämen wolle. Steht Profit zu erwarten, muss der gelernte Linksliberale sich mit moralischen Argumenten nicht mehr aufhalten. Der Kampf um Gleichberechtigung auf der arabischen Halbinsel hat zurückzutreten vor dem Geschäftsinteresse von Juwelieren, Textilhändlern und Hoteliers.
Seit der Renaissance, spätestens jedoch seit der Aufklärung basiert unsere Gesellschaft auf der Anerkennung der Individualität. Gleichheit bedeutet eine Gleichwertigkeit unterschiedlicher Individuen und Freiheit ist erst denkbar, wenn der Einzelne sich als solcher wahrnimmt und auch von anderen als Individuum wahrgenommen wird. Weitergedacht bedeutet das Recht auf Freiheit und Gleichheit aber auch die Pflicht zur Individualität. Jeder muss seine Handlungen selbst verantworten und kann sich im Nachhinein weder auf einen Befehlsnotstand noch auf einen angeblichen gesellschaftlichen Konsens berufen, das haben die NS-Prozesse hoffentlich jedem vor Augen geführt.
Das Ziel der Vollverschleierung ist es, die Individualität der Frauen auszulöschen, zumindest im öffentlichen Raum, indem man sie in wahlweise blaue oder schwarze Säcke steckt. Sie ist ein Herrschaftsinstrument des Patriarchats, dem sich, das sei zugestanden, manche Frauen möglicherweise freiwillig unterwerfen. Unter jedem Regime gibt es jene, die sich freiwillig unterwerfen, weil sie sich durch die Solidarisierung mit den Unterdrückern Vorteile oder wenigstens verringertes Leid erhoffen. Andere gehen den Weg des geringsten Widerstandes und modifizieren ihr Verhalten sobald sie eine Wahl haben. Wenige kämpfen um ihre Rechte. Nur die erste dieser Gruppen sehen wir auf unseren Straßen vollverschleiert. Sind sie es, die unseren Schutz an erster Stelle verdienen?
Ein Verbot der Vollverschleierung richtet sich ausschließlich gegen ein rückständiges Patriarchat. Es schützt die Interessen derjenigen, die zu schwach sind, um sich gegen die Auslöschung ihrer Individualität zu wehren. Einer Individualität, die ich als unerlässliche Grundlage einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft erachte.
Kann ein Staat durch das Verbot der Vollverschleierung die Individualität erzwingen? Ich bezweifle es. Die Logik, die derzeit in Deutschland herrscht, scheint mir eher durchsetzbar. Wenn eine Frau in der deutschen Öffentlichkeit sich hinter einen Augenschlitz verbirgt, ist es eine Weigerung zum Teilnahme an der Gesellschaft. Es wird also gefordert, dass die Verschleierung in öffentlichen Gebäuden verboten wird. Auch Frauen, die bei offizieller Stellen arbeiten, müssen Gesicht zeigen. Das sähe ich als ein guter Anfang. Und wie sollte eine Burka gekleidete Frau überhaupt Autofahren? Dieser Sack behindert sowohl die Beinfreiheit zum Pedalen-Betätigen als auch die Sicht. Womöglich würden sie es auch gar nicht wollen. Denn in Saudi Arabien (u.a.?) dürfen die Frauen ohnehin nicht ans Steuer, was für mich ein großes Hindernis zu der Entwicklung der Selbstständigkeit darstellt.
Ein Burkini-Verbot sehe ich auch als problematisch. Denn die Gesichter sind wenigstens frei sichtbar. Wenn eine Dame ihre Arme und Beine beim Baden nicht zeigen will, kann ich das akzeptieren.
Burkini oder Tschador (also Verhüllung ohne Gesichtsverschleierung) müssen wir akzeptieren, das denke ich auch.
Die Individualität aber muss nicht erzwungen werden, denn sie ist ja vorhanden und darf durch die Vollverschleierung nur nicht zutagetreten. Das ist ein großer Unterschied, finde ich. Sobald ich jemandem ins Gesicht sehen kann, wird er für mich zum wahrnehmbaren Individuum.
Absolut!
Danke, dass Du Dich so klar positionierst. Ja, die Vollverschleierung ist, wie Du schreibst, „ein Herrschaftsinstrument des Patriarchats“. Und hierzulande – da gibt es einen engen Zusammenhang – eine Kampfansage radikaler Islamisten an unsere freiheitliche, pluralistische und demokratische Grundordnung.
Radikal ist hier das Schlüsselwort. Ich bin auch der Ansicht, dass Radikalismen keinen Schutz verdienen. Eine Ablehnung des Islam im Allgemeinen möchte ich damit aber nicht verbinden. Religionsfreiheit ist ebenfalls ein demokratisches Gut, auch wenn ich selbst mich keiner Religion verbunden fühle.
Sehr gute Schrift, sehr guter Inhalt ! Verneigung !
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