Als Kind führte ich ein höchst abenteuerliches Leben. Auf einem selbstgebauten Floß erforschte ich nach der Schule mit meinen Freunden den Mississippi, ritt tagelang über die Prairie, kämpfte mit Pumas und schoss mir mein Mittagessen selbst oder fing Fische mit den bloßen Händen. Ich war schnell, sehr schnell. Nur das Zurichten und Braten der Beute überließ ich meinem Freund Tom Sawyer oder meinem Blutsbruder Winnetou, dem ich im lautlosen Anschleichen an zu belauschende Feinde übrigens schlangenfach überlegen war. Ich war es auch, die ihm zeigte, wie man sich seitlich an ein galoppierendes Pferd hängt, um kein Ziel für gegnerische Kugeln abzugeben.
Gelegentlich verließ ich Amerika, um andere Länder zu bereisen oder im Weltall nach dem Rechten zu sehen. Das Kommando der interplantaren Raumflotte hatte mich als intuitive Übersetzerin für die gebräuchlichsten Sprachen des Sonnensystems schätzen gelernt und konnte meine Eltern von Zeit zu Zeit überreden, mich für eine Mission ziehen zu lassen.
Mit anderen Mädchen hatte ich während dieser Abenteuer kaum zu tun. Die steckten in irgendwelchen Internaten, ärgerten sich mit Hanni und Nanni über strenge Lehrerinnen, backten Kekse und warteten als rüschenbekleidete Prinzessinnen auf ihren Prinzen, anstatt auf Bäume zu klettern, um die nahende Kutsche des Sheriffs von Nottingham zu überfallen.
Es gab allerdings Bereiche, wo sich meine Interessen mit denen der anderen Mädchen überschnitten. Pferde, hauptsächlich. Wann immer ich also meine Stute Flicka besucht hatte, die auf einem einige Autostunden entfernten Bauernhof in der Wildnis untergebracht war, erzählte ich in der Schule davon, wie ich das ganze Wochenende durch die Wälder geritten und über Stoppelfelder galoppiert war. Als Flicka dann schließlich ein Fohlen namens Schneeflocke warf, ließen sich die Bitten der Schulfreundinnen, doch mal eine von ihnen mitzunehmen, nicht mehr ignorieren. Babyfohlen sind ja so SÜÜÜÜÜSS!
Die Anziehung kleiner Tiere hatte ich nicht bedacht. Wie auch, ich war ja erst zehn. Dass meine Abenteuer mit Hilfe von Büchern alle im Kopf stattgefunden hatten, sich deshalb jedoch nicht weniger wahr anfühlten, wusste ich nicht zu erklären. Ich vereinbarte also Termine und sagte sie wieder ab. Bis mir ein Mädchen erklärte, ihre Mutter hätte ihr gesagt, dass ich krank wäre, eine pathologische Lügnerin. Nie in meinem Leben habe ich mich so sehr geschämt. Vor allem für meine Dummheit. Denn es war mir nicht bewusst gewesen, dass ich log. Die Lüge begann ja unmerklich erst, als ich das damals unhaltbare Versprechen machte, andere in meine Welt mitzunehmen.
Inzwischen habe ich gelernt, Phantasie und Realität in meinem Leben weitgehend zu unterscheiden. Ich lüge nicht im Alltag. Aber es schmerzt mich immer noch, wenn ich einen Vater oder eine Mutter mit ihrem Kind schimpfen höre, weil es angeblich gelogen hätte. Da wäre kein Bär und auch keine Höhle hinter dem Schulhaus, in der er wohnen könne. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.
Doch, sage ich zu ihnen. Den Bär gibt es und die Höhle auch. Ich habe sie gesehen. Aber man muss erst lernen, sie für andere Augen sichtbar zu machen. So, wie ich es gelernt habe, euch in meine Welten mitzunehmen. In meinen Texten. Die ausgedacht sind, aber wahr.
Genial geschrieben. Ich habe für einen Moment selbst geglaubt, das Pferd wäre echt.
Mit 10 Jahren von einer pathologischen Lügnerin zu reden ist auf jeden Fall ein krasses Statement. Schade, dass du niemanden in deine Welt mitnehmen konntest. Ich habe früher mit meinem Bruder gespielt und wir haben gemeinsam gesehen, was nie wirklich da war, und dabei die größten Abenteuer erlebt 🙂
Danke! Das war schon okay damals, ein wichtiger Lernschritt. Und irgendwie wüsste ich gern, was aus dem Mädchen geworden ist, dessen Mutter damals so streng mit mir ins Gericht gegangen ist.
Genau dieses Phänomen habe ich in zwei Kinderbüchern aufgearbeitet. Ich musste lachen, weil ‚mein‘ Bär in einer Höhle direkt hinterm Elternhaus schläft unter einer Birke, die sprechen kann – aber nur ganz leise … Was sind das für Erwachsene, die Phantasie und Lügen nicht auseinanderhalten können? Wahrscheinlich sind es dieselben, die rosaroten Glitzerkram für Mädchen und Fußball-Piraten-Gedöns für Jungen kaufen …
Wahrscheinlich welche die ihre Phantasien nie ausleben durften. Oder die keine haben. Doch, die gibt es schon, auch wenn wir Kreativen es uns schwer vorstellen können. Es verlangt Personen, die selbst wenig oder keine Einbildungskraft haben, sehr viel ab, sich in phantasievolle Kinder hineinzuversetzen. Ihnen fehlt ja genau die Ressource, die man dazu braucht. Sie dafür zu verurteilen wäre meiner Ansicht verkehrt.