Veilchenpower

Veilchen

Ein kontaminiertes Gedächtnisprotokoll

Kind zeigt Mutter das Poesiealbum.

Mutter (liest):
Sei wie das Veilchen im Moose,
bescheiden, sittsam und rein,
und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein.

Schön! Das stand schon in meinem Poesiealbum.

Kind: Warum?

Mutter: Wie, warum?

Kind: Warum lieber wie das Veilchen?

Mutter: Veilchen sind doch hübsch.

Kind: Rosen sind schöner! (Zeigt auf die prächtige Glanzpapierrose, die neben dem Vers klebt.)

Mutter: Aber Hochmut kommt vor dem Fall.

Kind: Was heißt das?

Mutter (stöhnt): Na, dass niemand Angeber mag und irgendwann zahlt man es ihnen heim, dass sie sich besser vorkommen. Bescheidenheit ist eine Zier.

Kind: Aber die Rose kann doch nichts dafür.

Mutter: Eh nicht. Ich muss in den Keller. Geh, mal mir ein schönes Bild!

Kind: Und das mit dem Licht unter der Schüssel?

Mutter: Man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen? Ja, das auch wieder nicht.

Kind: Immer diese double-binds! Die werden mich in der Therapie später jahrelang beschäftigen. Und den Charakter am Aussehen festzumachen ist doch doch total neunzehntes Jahrhundert. Voll das Body-shaming. Rosen-Bashing! (Geht in Ketten gelegte Veilchen und Rosenkriegerinnen malen)

Rasenmähen oder Sprache als Herrschaftsinstrument

Als ich heute zum ersten Mal in diesem Jahr den Rasen gemäht habe, ist mir der Spruch aus dem Poesiealbum eingefallen und das diffuse Unbehagen, dass er in mir als Kind ausgelöst hat. Natürlich war er schon damals altmodisch in seinem penetranten Bemühen um Disziplinierung. Aber noch immer gab es Mütter, die ihren Töchtern die Verse überlieferten, die ihnen – absichtlich oder unreflektiert – genau diese Haltung mit auf den Weg geben wollten. Und die gab es auch noch, als meine Mädels ihre kurze Poesiealbenphase durchlitten.

Bescheiden, sittsam und rein. Lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach und bloß nicht rumvögeln, Mädels! Dazu die Rosenbilder, von denen der Spruch so häufig begleitet wurde, ein subversiver Akt des Unbewussten.

Die Rosen blühen noch lange nicht. Die Veilchen sind überall, durchsetzen unsere schattige Wiese, leuchten zwischen den Himbeersträuchern und den Erdbeerblättern mit den ebenso unglamourösen Gänseblümchen um die Wette. Gemeinsam ducken sie sich unter dem Rasenmäher und heben zwischen den gekürzten Halmen die Köpfe. Sie sind viele und sie kommen immer wieder.

Ihr Rosen und Veilchen unter den Mädchen und Frauen (Jungs und Männer dürfen sich mitgemeint fühlen) – seid euch eurer Kraft bewusst!

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Eine Antwort zu Veilchenpower

  1. ulrikeblatter schreibt:

    In einem Essay über die traditionelle Symbolik der Blumen schrieb ich vor einiger Zeit auch über Veilchen – sozusagen die Varianten für Erwachsene 😉 Viel Spaß! Hier ist das erotische Vokabelverzeichnis der Blumen: Rosen finden wir fast überall. Diese elegante Dame und ihre Botschaft kennen wir zur Genüge, und auch die schwülen Duftwolken des üppigen Flieders senden eindeutige Signale, stellen aber auch die bange Frage: Bist du mir treu? Für frisch Verliebte eignen sich blaue und weiße Glocken: ‚Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt‘ sagt die Glockenblume und das Schneeglöckchen flüstert hinter vorgehaltener Hand: ‚Komm, lass deine Liebe zu und geh noch einen Schritt weiter!‘ Etwas diskreter sagt es das Veilchen: ‚Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Ich bin verschwiegen – aber vielleicht auch ein wenig schüchtern.‘ Ich erinnere mich: Meine Oma trug gern einen kleinen Strauß aus Veilchenblüten am Dekolleté. Oh, lá lá!

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