Ärztin: Was führt Sie zu mir?
Ich: Magenschmerzen, allgemeine Antriebslosigkeit, Schlafprobleme. Und mit meinen Augen ist auch irgendwas.
Ärztin: Raten Sie mal, wonach das für mich klingt?
Ich: Hypochondrisch?
Ärztin: Psychosomatisch.
Ich: Aber ich habe keine Probleme.
Ärztin: Kein Stress? Wie läuft’s beruflich?
Ich: Super! Mein neues Buch ist im Druck, kommt Ende des Monats heraus. Ich bin mehr als dankbar, mit dem Erfolg zu haben, was ich am Liebsten mache. Vor allem, wenn ich bedenke, dass andere Menschen in Sklaverei-ähnlichen Verhältnissen für uns Obst pflücken oder während ihrer Ausbildung aus unserer Mitte in Kriegsgebiete abgeschoben werden, die sie schon als Kinder verlassen haben. Kein Wunder, dass man sich da vor Verzweiflung erhängt. Aber für mich könnte es wirklich nicht besser laufen.
Ärztin: Verstehe. Privat auch alles im grünen Bereich?
Ich: Alles bestens. Seit über fünfzehn Jahren lebe ich gut mit demselben Mann und es schaut so aus, als würden wir gemeinsam alt werden. Ist ja nicht so, dass wir hier Armut oder Krieg befürchten müssten. Die Waffen schicken wir zum Glück in andere Länder.
Ärztin: Die Kinder?
Ich: Erwachsen und fast fertig mit ihren Studien, leben in glücklichen Beziehungen. Stellen Sie sich vor – ein paar tausend Kilometer südlich oder östlich geboren, wären sie womöglich von Landminen verstümmelt worden oder vor meinen Augen auf der Flucht über das Mittelmeer ertrunken. Geradezu unfassbares Glück.
Ärztin: Ich nehme an, die Wohnsituation ist ebenfalls zufriedenstellend, wenn man sie mit zerbombten Häusern oder libyschen Flüchtlingslagern vergleicht?
Ich: Selbstverständlich, auch im Vergleich mit griechischen Lagern oder deutschen Asylheimen. Geben Sie mir jetzt ein Rezept?
Ärztin: Da kommen wir ohne Chemie aus. Ich zeige Ihnen eine ganz einfache Übung. (Sie dreht den Kopf um 90 Grad nach rechts und wieder zurück.) Kommen Sie, probieren Sie das!
Ich: Was soll das? Ich habe keinen verspannten Nacken. Bitte geben Sie mir ein Rezept!
Ärztin: Vertrauen Sie mir – einfach in die andere Richtung schauen. (Dreht den Kopf.)
(Ich drehe den Kopf nach links und wieder zurück. Unsere Blicke treffen sich.)
Ärztin: Gegen die braunen Schlieren vor den Augen hilft es leider nicht.
Ich: Mit viel Blinzeln kann man sie verteilen. Dann liegt ein sanftbrauner Schleier über allem. Nostalgisch.
Ärztin (nickt zögernd, blinzelt unter Tränen): Die gute alte Zeit. Nicht wegzuwaschen. (Sie geht zum Fenster, öffnet es und schlüpft aus den Schuhen. Sie steigt aufs Fensterbrett.)
Ich (stehe auf, drehe mich zur Tür, hebe im Gehen grüßend die Hand): Vielen Dank, Frau Doktor, Sie haben mir sehr geholfen!
(Ein schriller Schrei ertönt. Eine Möwe sicherlich. Dann ein ferner Aufschlag.)
Fröhlich makaber. Nein, arg schwarzhumorig. Nein, mit Wahrheiten versetzt, vor allem über brauen Schlieren. Eigentlich eklig schlimm. Schlimmer geht`s nimmer. Oder kaum.
Eklig schlimm … hm, da muss ich wohl danke sagen 😉 Wie anders kann man noch darüber schreiben?