
Corona – die einen reden und schreiben über nichts anderes, die anderen schweigen. Sie schweigen beredt oder ratlos, verzagt oder genervt, aus Coolness oder Mangel an Expertise. Ich gehöre nicht zu ihnen. Seit die unwillkommenen Eindringlinge unsere Aufmerksamkeit fesseln, probiere ich mit maximaler Ambiguitätstoleranz alle Blickpunkte durch, teile und diskutiere sie mit unbekannten und bekannten Freunden.
So habe ich mich zunächst als coole Statistikerin versucht (die Zahl der an Grippe/Kreislauferkrankungen/Krebs Sterbenden ist x-tausenfach höher …). Ich untersuchte die Angelegenheit auf ihr humoristisches Potential (Bilder mit Klopapier gefüllter Supermarktregale / wenigstens sind die Züge leer), vergaß jedoch nicht die political correctness (Wir müssen trotzdem an die Flüchtlinge denken). Selbstredend habe ich auch ein paar glaubwürdige Verschwörungs?-Theorien auf Lager, dazu ernste Sorgen, was die Einschränkung der Bürgerrechte und flächendeckende Überwachung betrifft und Hoffnungen auf eine solidarischere Gesellschaft und ein Ende des neoliberalen Kapitalismus. Schließlich kann ich auch Panik (Ausgangssperre? Ich muss hier raus!), identifiziere mich schamlos mit dem Feind (https://gudrunlerchbaum.com/2020/03/05/planet-der-viren-2/) und das ist längst noch nicht alles. Einzig vor religiösen oder esoterischen Erklärungsversuchen schrecke ich zurück.
Opportunismus sagen die Eindimensionalen zu meiner Haltungsvielfalt. Si tacuisses philosophus mansisses schleudern mir andere ein Zitat entgegen, das dem spätantiken Gelehrten Boethius zugeschrieben wird. Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben. Das wirft man mir schon seit der Schulzeit an den Kopf und meint damit von der Originalbedeutung abweichend: Wie uncool zu verraten, dass du nicht sicher bist, was los ist! Es ist das Lieblingszitat jener, die weder Wissen noch Unwissen gerne teilen aus Angst von anderen belehrt zu werden und sich dennoch als Philosophen oder mindestens altphilologisch gebildete Autoritäten stilisieren möchten.
Ich gebe zu, ich bin verwirrt. Ich suche nach einer Haltung zu dieser Situation, die es so zu meiner Lebzeit in Europa noch nie gab: Massive Freiheitsbeschränkungen, drohendes Versagen des Gesundheitssystems, ein unsichtbarer Feind, der auch mich bedroht, der jedoch, meinem Gefühl nach, reichlich gefüttert wird mit Ängsten, die ganz anderen Fremden gelten. Jenen, die viele auch mit Gewalt außerhalb der Grenzen Europas halten möchten. Zudem frage ich mich, wie Alleinerzieherinnen in kleinen Stadtwohnungen oder Einsame ohne Internet, die es in der besonders gefährdeten Generation sicherlich gibt, wochenlange Isolation durchhalten. Ich blicke mit Sorge auf die Zeit danach, die hoffentlich nah ist. Werden wir in der Lage sein, die Lehren zu ziehen, Produktion wieder lokaler stattfinden zu lassen, ohne Geist und Grenzen abzuriegeln? Werden wir uns die Solidarität bewahren und das Bewusstsein dafür, wie wichtig soziale Kontakte und Gesundheit im Vergleich zu allem anderen sind? Werden wir denen, die uns weismachen wollen, dass nun kein Geld für Klimaschutz da ist, weil erst einmal die Wirtschaft wieder hochkommen muss, glauben, uns ermattet ergeben oder entschieden eine Systemänderung einfordern? Wird alles womöglich nur, wie es war?
Das Virus, so stellt man es uns bildlich dar, ist ein unheilvoll verkohlter Ball, rundum besetzt mit pinkfarbenen Knospen. Es gleicht damit der Gemengelage, in die es uns bringt. Aus einer Perspektive ist die nicht zu erfassen. Sie ängstigt und verheißt auch Chancen. Daher muss ich sie umkreisen, so ziemlich jeden Blickpunkt ausprobieren, um festzustellen, ob sich auf der anderen Seite die Knospen vielleicht schon geöffnet haben. Und wenn so ein Ball in voller Blüte stünde – sähe der nicht aus wie eine Hortensienblüte?
liebe gudrun, wie sehr spricht mich dein text doch an!
ich bin auch eine, die alle möglichen erwägungen heranzieht und die dann versucht, in meiner mitte zu bleiben. mich nicht von dem allen zu sehr vereinnahmen zu lassen.
ich habs an sich gut, lebe in einer beschaulichen gemeinde in dem bundesland, das nur vereinzelte fälle aufzuweisen hat. ich geh an sich nicht viel aus und mein mann und ich wir halten es monatelang miteinander aus. abgesehen davon, dass die pekuniäre situation derzeit noch nicht gefährdet scheint. also mein leben läuft nur minimal verändert ab.
aber zb. das thema der alleinerziehenden schwirrt mir auch immer im kopf herum. noch dazu, wo diese menschen ja oft auch finanziell am limit leben. bis die unterstützung kriegen …
oder denke ich tatsächlich, dass es mehr tote durch häusliche gewalt geben könnte als durch das virus, wenn familien in prekären situationen nun miteinander in ihre wohnungen eingepfercht werden. wenn die väter daheim saufen und nicht nach einem wirtshausbesuch nur erschöpft ins bett fallen. die gewalt in den familien wird auf jeden fall steigen. die nerven werden blank liegen und die meisten sind ja auch gar nicht gewöhnt, mit ihrem quengelnden nachwuchs umzugehen.
aber ich sehe noch etwas anderes: ich sagte oft schon, es wird erst alles zusammenbrechen müssen, um einen auf- oder zumindest umschwung zu erreichen, das ist das gesetz der welle …
und wenn wir das alles überleben, dann wird die welt wohl eine andere sein, aber sie wird auch viele chancen bieten.
ich hoffe, wir werden sie dann nützen!
lieben gruß
evelyn
Danke für das Feedback, meine Liebe! Ja, das Thema Gewalt macht mir auch Sorgen. Ob alles zusammenbrechen muss, damit sich was ändert, davon bin ich allerdings nicht so überzeugt. Meine Tochter behauptet das auch immer. Die hat allerdings auch noch mehr Kraft für den kompletten Neuanfang. Ich hab da so gar keine Lust drauf …
Lieben Gruß ins Burgenland!
noja, es wird keinen interessieren, ob wir lust auf einen neuanfang haben …
aber ich sehe es dennoch so, dass in der situation sehr wohl auch chancen stecken könnten. es wird wohl spannend.
lieben gruß aus dem burgenland 🙂
Ich denke, wir fahren momentan alle auf Sicht. Als Ärztin, die viel mit Infektionskrankheiten zu tun hatte und als Radreisende in Gebieten mit vielen Infektionsmöglichkeiten sehe ich die Dinge einerseits gelassen – andererseits aber die Notwendigkeit, die Erkrankungskurve abzuflachen, damit das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Erfahrungsgemäß wird uns dieses Virus das ganze Jahr über eschäftigen, evtl. mit zweigipfligem Verlauf auch noch länger. Wir MÜSSEN einen Umgang damit lernen und Risikoabwägung betreiben. Wir müssen arbeitsfähig bleiben, wollen unsere Eltern nicht infizieren und können nicht hinnehmen, dass unsere Welt verwüstet wird wie nach einem Krieg. Kurz: wir werden länger mit Einschränkungen leben müssen, uns dran gewöhnen und trotzdem enger zusammenrücken (meine optimistische Prognose). Die pessimistische habe ich vor einigen Jahren mal aufgeschrieben, aber die braucht kein Mensch.
Ja, die Distopien zum Thema sind momentan nur für die wenigsten die passende Lektüre. Mutmacher sind gefragt. In den guten Zeiten ist es dann wieder umgekehrt.